Filmische Diskurse des Mangels
Zur Darstellung von Prekarität und Exklusion im europäischen Spiel- und Dokumentarfilm
Emmy Noether-Nachwuchsgruppe an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
Zur Darstellung von Prekarität und Exklusion im europäischen Spiel- und Dokumentarfilm
Emmy Noether-Nachwuchsgruppe an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
Das Projekt untersucht, wie europäische Filme der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit Phänomene des Mangels darstellen und diskursivieren. Es fragt danach, welche Bilder von Prekarität und Exklusion gezeichnet, über welche Narrationen die Probleme entfaltet und welche Angebote der Empathie und der Reflexion dabei gemacht werden. Anhand von Beispielen des europäischen Spiel- und Dokumentarfilms (inkl. neuerer ‚postkinematografischer’ und webbasierter Formate) der letzten 25 Jahre werden die Diskursivierungen jener Phänomene in den Blick genommen, die in Europa zum Alltag gehören und für die soziostrukturelle Ursachen angenommen werden: prekäre Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse; Erwerbs- und Obdachlosigkeit; Kinder- und Altersarmut; genderspezifische Probleme; Probleme von (illegalisierten) Migrant_innen und Flüchtlingen. Jeweils geht es dabei nicht vorrangig um einen Abgleich mit der vermeintlich referenzierten Wirklichkeit, sondern um die spezifischen Modalitäten der filmischen Diskurse, also die kinematografischen Verfahren und ihre möglichen Effekte.
Team
Guido Kirsten
Leiter der Forschungsgruppe
g.kirsten(at)filmuniversitaet.de
Guido Kirsten, Dr. phil, studierte Filmwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Köln, Paris und Berlin; als akademischer Mitarbeiter arbeitete er von 2007–2009 in Jena und von 2009–2013 in Zürich, wo er 2013 mit seiner Arbeit Filmischer Realismus promoviert wurde (Marburg: Schüren 2013). Anschließend forschte er als Post-Doc am Department for Media Studies der Universität Stockholm zu Fragen filmischer Ästhetik und war Vertretungsprofessor für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2018 ist er Leiter der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Filmische Diskurse des Mangels. Zur Darstellung von Prekarität und Exklusion im europäischen Spiel- und Dokumentarfilm“ an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF in Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Fragen von Repräsentation und audiovisueller Diskursivität und Narrativität, filmische Konfigurationen von Nähe und Distanz sowie die Geschichte des Films und der Filmtheorie. Er ist Mitherausgeber u.a. von Christian Metz and the Codes of Cinema: Film Semiology and Beyond (Amsterdam University Press 2018; gemeinsam mit Margrit Tröhler) und der film- und fernsehwissenschaftlichen Zeitschrift Montage AV (seit 2007), für die er u.a. Ausgaben zu André Bazin (2009), Film und Politik (2014), Roland Barthes (2015), neuer Filmdistribution (Streams und Torrents, 2017), Nähe und Distanz (2019) und Brasilien (2021) mitbetreut hat. 2022 erscheint sein Buch Découpage: Historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs (Marburg: Schüren). Ebenso 2022 erscheint bei DeGruyter als erster Band der neuen Buchreihe „Film, Class, Society“ der Sammelband Precarity in European Film: Depictions and Discourses (hg. gemeinsam mit Elisa Cuter und Hanna Prenzel).
Kirsten arbeitet im Rahmen des Projekts an einer Monografie mit dem Arbeitstitel Kino und Klasse. Darin entwirft er eine Theorie filmischer Diskursivität und zeichnet historische Stationen der Darstellung sozialer Phänomene nach, die mit der Klassengesellschaft zusammenhängen (wie beispielsweise Ausbeutung, Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot). Zentral für seine Theorie filmischer Diskursivität ist die Differenzierung von drei semantischen Dimensionen: der intensionalen, der extensionalen und der referenziellen Dimension. Ihnen entsprechen die textuellen Systeme des audiovisuellen Stils (verstanden als geformte Ausdrucksmaterie), der Narration (Ordnung, Sequenzierung und Verknüpfung diegetischer Ereignisse) und des Diskurses (repräsentationale, argumentative und persuasive Bezüge zur sozialen Wirklichkeit). In diskursiven Lektüren von Filmen wird die referenzielle Dimension gegenüber den anderen beiden privilegiert, im Vordergrund stehen also die Bezüge zur sozialen Wirklichkeit und Bezüge zu anderen Diskursen über diese Wirklichkeit (beide lassen kategorial unterscheiden, jedoch nicht voneinander trennen).
Kirsten entfaltet Probleme der Analyse filmischer Klassendiskurse anhand von fünf Stationen: Lois Webers sozialkritische Filme Shoes (1916) und The Blot (1921); das klassenbewusste Kino der späten Weimarer Republik von Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) bis Kuhle Wampe (1932); Verhandlungen der Wohnungsfrage in L’onorevole Angelina (1947), Il tetto (1956) und Le mani sulla città (1963); politische Narrative wilder Streiks in Coup pour coup und Tout va bien (beide 1972); schließlich das sogenannte „Kino der Prekarität“ der späten 1990er-Jahre bis heute. Über die von Kirsten entworfene Theorie filmischer Diskursivität sollen der Filmwissenschaft neue Zugänge zum Problem der kinematografischen Darstellung sozialer Sachverhalte erschlossen werden.
Elisa Cuter
Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promotionsstudentin
e.cuter(at)filmuniversitaet.de
Elisa Cuter hat Philosophie an der Università degli Studi di Torino (Bachelor) und Filmwissenschaft (Master) an der Freien Universität Berlin studiert. Während ihrer Studienzeit war sie zunächst als Mitarbeiterin im Archiv des Kinomuseums Turin und später als Filmkritikerin für zahlreiche Kulturmagazine im In- und Ausland tätig. Bei der Organisation von Filmfestivals, u.a. Cinema Lavoro Migrazioni. Carbonia Film Festival, Lovers Filmfestival LGBTQI Turin Visions und Berlin Feminist Film Week wirkt sie derzeit in unterschiedlichen Rollen mit, von der Assistenz der künstlerischen Leitung und der Beteiligung im Auswahlkomitee bis hin zur Konzeption wissenschaftlicher Panels. Sie ist Auslandsredakteurin für die Associazione Italiana per le Ricerche di Storia del Cinema. Seit September 2018 ist sie leitende Redakteurin der Politik- und Gesellschaftssektion des Kulturmagazins Il Tascabile – eine Veröffentlichung des Treccani Instituts für die Enciclopedia Italiana. Einige ihrer Forschungsergebnisse wurden bereits in Fachzeitschriften und Sammelbänden publiziert.
Ihre Forschung im Rahmen des Projekts „Filmische Diskurse des Mangels“ befasst sich damit, wie das zeitgenössische Kino den prekären Zustand jener Berufe darstellt, die die Tertiarisierung des westlichen Kapitalismus in den Zeiten seiner Krise am deutlichsten veranschaulichen: Künstler*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen sowie andere Intellektuelle und Kreative. Anhand verschiedener Formate, Genres und nationaler Produktionen erforscht Elisa Cuter die vielfältigen formalen Strategien, die zu unterschiedlichen und widersprüchlichen filmischen Diskursen beitragen. Sie bewegen sich zwischen der Romantisierung der mittellosen Künstler*innen und der Rhetorik des intellektuellen Privilegs bis hin zu dem Versuch, Porträts und Erzählungen der wachsenden und gefährdeten Kategorie der kognitiven Arbeiter*innen anzubieten. Durch die Verknüpfung von Diskurs-, Produktions- und Rezeptionsforschung analysiert Cuter filmische Texte als Metareflexionen und Selbstdarstellungen von unter prekären Bedingungen arbeitender Filmschaffender und verortet die Filme innerhalb aktueller soziopolitischer Debatten.
Hanna Prenzel
Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promotionsstudentin
h.prenzel(at)filmuniversitaet.de
Hanna Prenzel studierte Kunst und Französisch (BA), Kunstgeschichte im globalen Kontext mit Schwerpunkt Kunst Afrikas (MA) und Arts and Media Administration (MA) in Berlin, Osnabrück, Rennes/Frankreich und Dakar/Senegal, sowie Dokumentarfilmregie an der selbstorganisierten Filmschule filmArche in Berlin-Neukölln. Sie ist Mitbegründerin des Filmemacher:innenkollektivs TINT. Zu ihren Interessensgebieten gehören Fragen der Ethik in dokumentarfilmischer Arbeit, Postkoloniale Theorie, Intersektionalität und feministische Filmtheorie. Einige ihrer Forschungsergebnisse wurden bereits in Fachzeitschriften und Sammelbänden publiziert.
In ihrem wissenschaftlich-künstlerischen Promotionsprojekt untersucht sie feministische Arbeitskämpfe und Formen des Widerstands unter prekären Arbeitsbedingungen in sogenannten kollaborativen (kollektiven als auch partizipativen) Filmproduktionen. Gegenstand der Analyse ist der Konnex von kollaborativen Produktionen und feministischen Arbeitskämpfen: wilde Streiks für bessere Arbeitsbedingungen von Frauen* (z.B. Für Frauen – 1.Kapitel, 1971), die gewerkschaftliche Organisierung in der Sphäre der Reproduktionsarbeit (z.B. The Nightcleaners, 1972-75) oder dezentrale individuelle Streikstrategien von prekären Arbeiter:innen (z.B. A la Deriva [por los Circuitos de la Precariedad Femenina], 2003). Neben der diskursiven Analyse von gesellschaftlichen, politischen und historischen Verweisen im filmischen Text werden aus feministisch-intersektionaler Perspektive die kollaborativen und prekären Produktionsbedingungen untersucht.
Die Aktualität kollektiver filmischer Arbeitspraxis in und trotz prekärer Arbeitsbedingungen steht im Zentrum des künstlerischen Projekts: kollektiv (AT) verhandelt kollektive Handlungsfähigkeit sowie die Geschichte und Aktualität kollektiven Arbeitens unter prekären Bedingungen in Berlin. Dafür werden Methoden künstlerischer Forschung angewendet: erstens die Bezugnahme auf Filme der (queer)feministischen Filmgeschichte mit ihren Verbindungslinien ins Heute, zweitens die filmische Dokumentation der kollektiven Inszenierungs- und Denkprozesse und drittens eine interviewbasierte Befragung kollektiver Arbeitsweisen unter prekären Bedingungen. kollektiv (AT) wird gemeinsam kollektiv arbeitenden Filmschaffenden realisiert und ist ein non-lineares Kaleidoskop zu Utopien und Grenzen, Handlungsspielräumen und Widersprüchen sowie der Geschichte und Aktualität kollektiven Arbeitens.
Paulina Malgorzata Peschken
Studentische Hilfskraft
Paulina studierte Anglistik und Kultur- und Sozialanthropologie in Münster und Aberdeen und arbeitete danach einige Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am FilmLAB der Universität Münster. Dort war sie an der Konzeption und Durchführung von medientheoretischen und -praktischen Lehrveranstaltungen und an zahlreichen Filmprojekten zur Wissenschaftskommunikation beteiligt. Seit 2021 studiert sie im MA Drehbuch/ Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.
Jessica Hölzl
Studentische Hilfskraft
Jessica absolvierte ihren Bachelor in Germanistik und Theaterwissenschaft und arbeitete gleichzeitig einige Jahre in der freien Theaterszene in Bayern und NRW. Dabei fokussierte sie sich vor allem auf politisches Theater in all seinen Erscheinungsformen. Sie war Teil der Zukunftsakademie Bochum, die sich mit postmigrantischen Perspektiven im Theater beschäftigte. Seit 2021 studiert sie im MA Drehbuch/Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. In ihrer Arbeit als Autorin interessieren sie vor allem subversive Erzählweisen zu Themen wie Klassismus, Auswirkungen des Kapitalismus und Feminismus.